Hach, Chicago. Du Heimat von Jake und Elwood Blues. Vorbild für Gotham City. Stadt am Michigan-See. Das Köln Amerikas. Und: Hauptsitz von SRAM – das interessiert uns heute am meisten. Begleitet von Truck Stop aus den Auto-Lautsprechern und eingestellter Cruise Control fahren wir von Indianapolis zum letzten Stopp unserer dreiteiligen SRAM-Hausbesuchsreihe nach Norden in den anliegenden Bundesstaat Illinois. In USA-Dimensionen ist die Distanz von Zipp zum Hauptquartier des Komponentenriesen nahezu fußläufig – nach rund drei Stunden baut sich vor uns die Skyline von Chicago auf. Kurz darauf erreichen wir ein riesiges Gebäude, auf dem ein nicht weniger riesiges Firmenschild eines bekannten Suchmaschinenanbieters angebracht ist. „SRAM sitzt hier im dritten Stock“, erklärt Max von SRAM. Na, dann gehen wir mal rein. Willkommen zum SRAM-Hausbesuch in Chicago – dem großen Finale unserer dreiteiligen Hausbesuchsreihe.
Moment mal, dritter Stock? Nachdem wir in Colorado und Indianapolis riesige Firmengebäude kennengelernt haben, befindet sich das Hauptquartier in einem einzigen Stockwerk eines großen Bürohauses? Also, das hätte ich mir dann doch anders vorgestellt. Als wir jedoch den Eingangsbereich samt Pförtner passieren, stelle ich fest, dass auch Google obendrüber nur eine Etage bezieht und es wird klar: Das reicht schon aus. Denn die Grundfläche von SRAM Chicago misst gefühlt 30 Fußballfelder oder umgerechnet viermal das Saarland.
Scott, Ray und Sam
Nach einem kurzen Begrüßungskaffee treffen wir Michael Zellman. Er ist als Communications Manager Road tätig, wird uns heute herumführen und erläutern, wie das mit SRAM überhaupt begann, ergänzt durch weitere Informationen von JP McCarthy aus dem Product Management. Keine Sorge, wer schon früher keine Lust auf Geschichtsunterricht hatte: Die folgenden Absätze sind keine allumfassende Firmengeschichte, sondern geben ein paar Einblicke in die spannendsten Stationen von SRAM, gepaart mit Bildern. Los geht’s.
Alles begann mit Stan Day und Sam Patterson. In den späten 80er Jahren saßen sie der Legende zufolge in einem Skilift zusammen und überlegten, beide begeisterte Radfahrer, warum es denn keine Schaltung für Rennräder gibt, bei der man nicht zwangsläufig die Hände vom Lenker nehmen muss. Diese Diskussion mündete in der Entwicklung des ersten Grip Shift-Schalthebels, der zunächst, einige wird es wundern, am Rennrad zum Einsatz kam. Ein Name für die Firma fehlte dann noch – und was könnte man aus Scott King, Stan (Ray) Day und Sam Patterson machen? Richtig: SRAM. Und auch wenn es auf der Welt teilweise „SCHRÄM“ oder „Es-Ram“ ausgesprochen wird, so klären wir hiermit final auf: Es wird „SRÄM“ prononciert!
Übrigens fand SRAM erst auf Anregung von Stans Bruder F.K. Day (der übrigens der Mitgründer des World Bicycle Relief ist) Gefallen an Mountainbike-Komponenten, sodass GripShift Anfang der 90er Jahre auch am Mountainbike Einzug hielt. Nachdem 1995 mit ESP das erste Schaltwerk von SRAM produziert wurde, folgte mit dem Kauf von Sachs 1997 der bis dahin ambitionierteste Schritt auf dem Weg zum kompletten Schaltsystem. Mit dem XO-Schaltwerk, das 2001 veröffentlicht wurde, gab es auch erstmals Trigger-Schalthebel, parallel zu den bisherigen GripShift-Varianten. Nun ging es Schlag auf Schlag: Nur ein Jahr später zückte SRAM erneut die Geldbörse und erwarb RockShox, womit die US-Amerikaner nun zusätzlich den Federungsmarkt bedienen konnten.
Blickt man auf die dünnbereiftere Fahrradsektion, kam auch dort nach einigen Jahren Pause wieder frischer Fahrtwind in die Entwicklung. Mit den Produktfamilien Force und Rival, die bis heute wichtige Rollen bei SRAM Road spielen, wurden brandneue Schaltgruppen vorgestellt – die Force wurde 2007 erstmals auch in einem Tour de France-Team eingesetzt. Nachdem ebenfalls 2007 Zipp erworben wurde (hier geht es zum Zipp-Hausbesuch), folgte 2008 mit der Top-Gruppe RED das rennradtechnische Komponentenhighlight, das vier Jahre später (nach dem Erwerb von Quarq 2012) erstmals durch einen Leistungsmesser ergänzt wurde.
Und nun wurde es insbesondere für die Mountainbike-Schaltungen spannend, denn 2012 wurde auch die erste 11-fach-Schaltung vorgestellt. Die SRAM XX1 war fortan Wegbereiter für eine Vielzahl neuer Schaltungen: Von den 11-fach-Varianten von XX1, X01, X1, GX und NX ging es, während man zwischendurch den Umwerfer „beerdigte“, über zur 2016 vorgestellten SRAM Eagle mit 12 Gängen. Seit zwei Jahren werden Eagle-, Force- und Red-Schaltungen zudem durch die elektronischen AXS-Varianten ergänzt, die alleine im MTB-Bereich im ersten Jahr über 100.000 Mal verkauft wurden.
Stand heute ist SRAM durch Firmenkäufe und Eigenentwicklungen in fast allen Komponentensparten rund um das Fahrrad selbst als Produzent tätig – mit Ausnahme von Sätteln und Pedalen.
Was kochen wir denn heute in der Entwicklungsküche?
Der Tag ist kurz und es stehen so einige Treffen mit spannenden Leuten an. Einer davon ist Kevin Wesling: Mit einem herzlichen Lächeln begrüßt uns der Global Director of Advanced Development, der uns heute ein paar spannende Produkte zeigen will, die es teilweise bis zur Serienreife geschafft haben – und teilweise eher nicht. Und diese sind ja meistens die spannendsten.
Auch hier arbeiten wir uns von alt nach neu. Wer erinnert sich noch an seine ersten Schalthebel am Lenker? Viele werden sich vermutlich an futuristische Ganganzeigen erinnern, die damals beim Show and Shine an der Eisdiele gar nicht so unwichtig waren. Der Twist Shifter mit elektronischer Ganganzeige war damals eine ganz schöne Innovation mit riesigem Display und sehr haltbarer Batterie. Blöd nur an der Sache war, dass die Anzeige einerseits zu klobig, andererseits schlichtweg zu teuer für den gemeinen Mountainbiker war.
Einen spannenden Prototyp aus dem Zeitalter der ersten Schaltungen zeigt uns Kevin am Beispiel der allerersten Double Tap-Schaltung (siehe Video weiter unten im Artikel). Die Double Tap-Funktion findet auch heute noch Verwendung in mechanischen SRAM-Rennrad- und CX-Schaltungen und war damals eine wichtige Innovation für die Firma. Im Video zeigt Kevin außerdem den liebevoll „Srampi“ (ein kreatives Kunstwort aus SRAM und Campi für Campagnolo) genannten Prototyp.
Auch die nächste Entwicklung, ebenfalls im Video zu sehen, zeigt eine Double Tap-Schaltung. Allerdings, und das ist die Besonderheit daran, zieht der Mechanismus seine Indexierung nicht aus dem Schalthebel, sondern direkt aus dem Schaltwerk.
Auch für RockShox war SRAM durchaus mit in der Entwicklung tätig. So stammen die ersten Motion Control-Einheiten aus der Feder von Kevin und seinem Team. Und nicht nur die bekannten Kunststoff-Varianten wurden entwickelt, es kamen sogar reine Titan-Modelle zum Einsatz.
Wir springen nochmal etwas zurück und stellen uns zusammen mit Kevin die Frage:
„What can you do differently now that it’s electric?“
Kevin holt einen schwarzen Helm aus einer ominösen Plastikkiste voller spannendem Kram heraus. Das Modell von Giro ist aber nicht irgendein Helm: Statt einfach nur zu schützen, kann man mit ihm sogar schalten. Mithilfe von Mikrofonen, diversen Verkabelungen und Platinen experimentierten Kevin und sein Team mit einer Spracherkennung, welche die Schaltung aktiviert.
If you don’t try it, people keep asking you for it. So you gotta make it, show people how stupid it is, and then they leave you alone.“
Kevin Wesling, herzlich dabei lachend
Und diese Schaltung funktionierte sogar ziemlich passabel. In geschätzt 9 von 10 Versuchen wurde vollkommen korrekt geschaltet – für eine perfekte Schaltung reicht das aber nicht. Zudem kam laut Kevin das Problem der Windgeräusche hinzu – Nutzer von Siri und Co. dürften das Problem kennen, wenn man auf dem Fahrrad unterwegs ist. „Up“ und „Down“ lag, beim Fahren gesprochen, zudem zu nah beieinander, sodass die Schaltung nicht immer wusste, was gemeint ist – für den Alltagsgebrauch nicht ganz ideal. Die Lösung des Entwicklerteams: Statt „Up“ und „Down“ wurde „Peanut Butter“ und „Jelly“ einprogrammiert. Klappte besser.
Kevin wühlt noch etwas tiefer in der Kiste und kramt zwei Ergon-Handschuhe hervor. Wir wissen langsam, dass auch dies keine normalen Handschuhe sein können und so ist es auch: Wie auch der Helm sind die Handschuhe verkabelt und ein Versuch, das Schalten per Fingertipp direkt in die Handschuhe zu integrieren.
Schöner Gedanke, aber: Auch ein Handschuh muss mal gewaschen werden und nutzt sich ab. Ergo: Reichte zum Versuch, für mehr aber auch nicht. Zu guter Letzt präsentiert Kevin seinen „Favorite Failure“ – also das Produkt, was so ziemlich das Unpraktischste war, das bislang entwickelt wurde. Passend dazu wurde es, etwas unelegant, „Twigger“ genannt – ein Mix aus Twist Shifter und Trigger. Im Video unten sieht man, wie das Ganze funktioniert – oder vielmehr eher nicht: Geplant war, das Beste aus Drehgriffschaltung und Trigger zu kreieren, herausgekommen ist es genau das Gegenteil. Definitiv ein Fall für die Kiste.
Video: Entwicklung und Prototypen-Bau bei SRAM
Alles wird elektrisch
Wir machen einen kleinen Ausflug in den Bereich der elektronischen Schaltungen. Ganz schön viel haben wir über AXS und Co. bereits herausgefunden, aber einige neue Informationen erhalten wir hier natürlich auch und das in erster Linie visuell – denn was man auf Test-Camps eher nicht zu sehen bekommt, zeigen uns Alex Ho, Mike Hemme und Scott MacLaughlin vom Product Development Team hier bereitwillig. Prototypen, Vorab-Exemplare? You name it.
Zunächst stellte sich natürlich die Frage: Braucht man überhaupt eine elektronische Schaltung? Die ehrliche Antwort: Nö. Aber man könnte ja versuchen, durch Elektronik das Schalten noch einfacher und schneller zu machen. Ebenfalls im Lastenheft stand, dass man die Buttons und Hebel, wenn man schon kaum Mechanik beim Schalten aufwenden muss, noch effektiver und angenehmer gestalten könnte. Und während das eTap-Projekt damals mit einem „Electrical Engineer“ begann, nahmen die elektronischen Komponenten schnell Fahrt auf und – schwupps – sprang man von vier auf heute rund 30 Personen, die sich nur um die elektronischen Komponenten kümmern.
Und im Vergleich zu den mechanischen Produkten entstanden hier völlig andere Betätigungsfelder, die vorher kaum eine Rolle spielten. Neben der Entwicklung der Hardware an sich muss natürlich eine entsprechende Firmware geschaffen werden – sowohl für die Einzelprodukte als auch für AXS allgemein. Dann musste die App entwickelt werden, kürzlich kam mit AXS Web ein umfangreiches Analyse-Tool hinzu und nicht zuletzt benötigte es neue Zulieferer aus dem Elektronik- und Motorbereich. Und getestet werden muss das Zeug schließlich auch noch – dazu mehr weiter unten. Jetzt lassen wir noch ein paar Bilder aus der Elektronik-Ecke sprechen:
Test Lab: No photos, please
Wir kennen das schon aus Indianapolis: Wird wild getestet, kann man zwar gucken, aber keine Fotos machen. So war es auch mehrheitlich in Chicago – schade, aber irgendwo auch verständlich. Wir treten ein und werden von Charlie Cheek freundlich in Empfang genommen. Charlie ist der Oberguru der SRAM-Testfraktion in Chicago und nicht nur in Chicago aktiv, sondern virtuell auch immer im engen Dialog mit den anderen Testlaboren von SRAM – insbesondere mit den Schaltungsexperten aus Schweinfurt gibt es angesichts der elektronischen Komponenten, die insbesondere hier entwickelt und getestet werden, einen ständigen Austausch. Denn wer sich gerade fragte, warum es mitten im Bürogebäude so ein umfangreiches Testcenter gibt, dem sei gesagt, dass sich hier nicht nur der Hauptsitz von SRAM befindet, sondern auch die komplette Entwicklung der Road-Schaltgruppen – quasi das Pendant zu Schweinfurt mit den MTB-Schaltkomponenten.
An acht Stationen wird hier getestet und geforscht, im Nebenraum kommen noch weitere dazu. Schaltwerkstests, Funkfrequenztests (für die AXS-Komponenten), elektronische Diagnosen, Wasserdichtigkeitstests und vieles mehr finden hier ihren Platz. Im Nebenraum steht außerdem eine riesige Rüttelplatte, auf der Schaltungen und Komponenten platziert und dauerhaft durchgerattert werden. Für den Dichtigkeitstest gibt es die Möglichkeit, Komponenten in ein 1 Meter tiefes Füllbecken zu tauchen. Ein Mitarbeiter erklärt uns, dass es damit grundsätzlich nicht getan ist – insbesondere Kunden aus Deutschland hegen laut ihm eine unerschütterliche Liebe zu Hochdruckreinigern und kärchern auch elektronische Schaltungen unerbittlich weg. Dafür will auch SRAM gewappnet sein und testet daher ebenfalls auf Hochdruckreiniger-Widerstandsfähigkeit, auch wenn man das grundsätzlich bitte weiterhin nicht tun sollte.
Kurze Essenspause
Wie wäre es kurz mit drei Essenstipps, klassisch im Influencer-Style? Drei tolle kulinarische Einkehrmöglichkeiten sind mir aus Chicago in Erinnerung geblieben, die ich daher hier kurz weitergeben möchte. Auch wenn sie so rein gar nix mit SRAM zu tun haben – außer, dass die Belegschaft gerne hin und wieder dort essen geht. Wer keinen Hunger hat oder direkt weiterlesen will, scrollt einfach drüber.
Veggie Grill
Sehr, sehr leckere vegane Gerichte. Ich mag Fleisch, aber die Bowls mit dem veganen „Hühnchen“ sind der Hammer: www.veggiegrill.com
Mozzarrella Store
Eine un-fass-ba-re Pizza. Mehr muss man nicht sagen. Eine Pizza Capricciosa für rund 20 € ist jetzt nicht grad supergünstig, aber jeden Bissen wert. Ein Stück Italia mitten in Chicago: www.mozzarellastores.com
Green Street Smoked Meats
Ein bisschen das Gegenstück zum Veggie Grill. Dunkel, etwas abgeranzter Hinterhof, aber drinnen geht die Post ab (wenn nicht grad ein Virus grassiert). Und wer auf die heilige Dreifaltigkeit des Barbecues steht, ist hier genau richtig. Unfassbar gutes Brisket und ein sehr beklopptes Essen namens Cheddar Jalapeno Hot Link: www.greenstreetmeats.com
Aber jetzt schnell, sobald alle Essen ordern wollen: Zurück zu SRAM!
Kleiner Rundgang gefällig?
Statt dass wir es uns in einem der Teilbereiche gemütlich machen, schlendern wir noch einmal mit der Kamera durch die ganze Firma. Und hier gibt es viel zu entdecken – ich lasse Bilder sprechen.
Unser dreiteiliger Hausbesuch geht damit zu Ende. Drei Orte und fünf anstrengende, absolut volle Tage liegen hinter uns – es geht wieder heim. Vor einem Jahr konnten wir, erst recht nicht in Amerika, ahnen, dass dies die letzte Übersee-Flugreise für lange Zeit sein sollte und sind im Nachhinein froh, dass alles noch so reibungslos funktioniert hat. Wir hoffen, dass wir euch einen spannenden Einblick geben konnten und legen euch auch nochmal die anderen beiden SRAM-Hausbesuche der Reihe ans Herz:
Hausbesuch bei RockShox: Auf Biegen und Brechen
Hausbesuch bei Zipp: Carbon und Kondition aus dem mittleren Westen
Welches Produkt war für euch das spannendste aus der alten Zeit von SRAM?
Interessant? Hier findest du weitere Hausbesuche und Blicke hinter die Kulissen bei zahlreichen Unternehmen der Bikebranche.
Information: Reise- sowie Unterkunftskosten wurden von SRAM übernommen.