Der neue Specialized S-Works Power Sattel mit Mirror-Technologie hat das Zeug, das Sitzen auf dem E-Bike zu revolutionieren. Die Satteldecke erstellt ein 3D-Drucker. Und schon bald könnte jeder Sattel genau auf ihren Besitzer maßgefertigt sein. Bereits jetzt resultiert das Polster – ein auffälliges Netzwerk mit 1.400 Knoten – aus Daten von tausenden Radfahrern, die Specialized aus dem Retül Bike-Fitting gewinnt. Hier sind der erste Fahreindruck und Hintergründe der revolutionären Technik, die trotz Test auf dem Rennrad auch für uns E-Mountainbiker interessant sein dürften.
Der Specialized S-Works Power Mirror ist der erste Sattel mit einer Satteldecke aus dem 3D-Drucker. Das sieht anders aus – und fährt sich auch anders, wie Rennrad-News bei einer ersten Testfahrt am Rande der WM 2019 erfahren konnte. Zunächst die Eckdaten:
Specialized S-Works Power Mirror: Die Infos
- EPU-Satteldecke aus dem 3D-Drucker mit 14.000 Zellen
- Vielfach genauere Definition der Entlastungszonen
- Dämpfung in Satteldecke hinein konstruiert
- Carbon-Sattelschale- und Streben des S-Works Power Sattels
- Unisex
- Breite 143 und 155 mm
- Gewicht 189 g (Herstellerangabe)
- Vielfach genauere Definition der Entlastungszonen
- Verfügbar ab März 2020
- Info www.specialized.com
- Preis unbekannt
Auf dem Kurs
Man kann Abhandlungen über die Technik schreiben, die hinter den neuen Specialized S-Works Power Sattel mit Mirror-Technologie steckt. Dass sie mit Gewohntem bricht, ist offensichtlich. Und die auffällige Erscheinung war auch gewollt. Aber hier soll es zuerst um das Fahrgefühl gehen. Denn der Sattel fühlt sich überraschend anders an. Stark verkürzt: Richtig straff, aber viel komfortabler als fast alle eher harten Competition-Rennsättel, die ich schon gefahren bin. Das Sitzgefühl ist auch nicht vergleichbar mit einem straffen Sattel, der mit einer stark flexenden Carbon-Sattelstütze kombiniert ist. Es ist eine feinere Dämpfung. Eher wie man sie erhält, wenn man den Reifendruck absenkt. Gleichzeitig fühlt man sich förmlich in die Satteldecke aufgenommen. Man sitzt nicht auf, man sitzt im Sattel. Nichts rutscht oder reibt: perfekt platziert.
Nun ist das Fahrgefühl auf einem Sattel immer eine stark individuelle Frage. Aber der bestimmende Eindruck von Dämpfungskomfort trotz straffem Sitz wird sich auch bei anderen Testpersonen einstellen – ich lehne mich weit aus dem Fenster: zu 98 %. Es ist schwer in Worte zu übersetzen, man muss es gemacht haben, sonst landet man schnell bei Formulierungen nach Art von Weinverkostungen. Specialized hat natürlich bereits eigene Testfahrer mit dem Sattel ausgestattet. Von diesen kam überwiegend die Rückmeldung, dass sich der Sattel deutlich besser und eben anders fährt. Häufig sei das Wort „locked in“ zu hören gewesen. Weil Gefühle nicht alles sagen, arbeitet man in der Body Geometry-Abteilung an Testverfahren, die neue Eindrücke messbar machen sollen.
Fest steht aber auch: Nach der gut zweistündigen Testfahrt auf einem Specialized Creo E-Roadbike mit nur einer Art Hosenpolster lässt sich über die Qualitäten für typische Rennradfahrten nur eingeschränkt urteilen, zumal die Sitzposition nicht mehrschrittig feinabgestimmt wurde. Für mein Empfinden hätte ich gerne zum Beispiel in der Dammgegend etwas mehr Freiraum gehabt, was über die Sattelneigung zu variieren ist. Über das Sitzklima lässt sich nach der Fahrt durch das kühle Yorkshire ebenfalls wenig sagen. Die offenporige Wabenstruktur lässt jedoch eine deutlich bessere Klimatisierung als üblich erwarten.
Dabei ist klar, dass das neue Fahrgefühl vor allem auf das Konto der neuen Carbon 3D-Satteldecke geht. Denn das Sattelgestell ebenso wie die Sattelschale übernimmt der Power mit Mirror Technologie eins-zu-eins vom bekannten S-Works Power-Sattel. Heißt: Er besitzt Streben und eine Sattelschale aus Carbon. Er wiegt mit 189 g laut Specialized auch genauso viel wie das Modell ohne Mirror-Technik. Verfügbar sind zum Start im März zwei Breiten: 143 und 155 mm. Bei beiden ist die Struktur der Satteldecke genau an die Breite angepasst. Die Wölbung der Satteldecke liegt in der Mitte zwischen den beiden bekannten Modellen Power und Power Arc.
Mirror-Technik
Wie schafft also die Satteldecke den Effekt? Die Antwort liefert die Fertigungstechnik. Der 3D-Druck erlaubt die vollkommen freie Gestaltung des Materials. In dem Fall kommt elastisches Polyurethan zum Einsatz, kurz EPU. Der „Druck“, genauer gesagt die „Digitale Lichtsynthese“, kann aber auch mit anderen Materialien erfolgen.
Die Verdienste von Carbon 3D, dem Lieferant der Technik, sind dabei zweierlei: erstens die Massenfertigung. Die Produktionsweise kommt bereits seit einem Jahr für den Adidas Sneaker Futurecraft 4D zum Einsatz. Laut Ananda Day, Projektmanagerin bei Carbon, wird in diesem Jahr die Millionengrenze mit dem Laufschuh überschritten. Für den Specialized Mirror Sattel können je 3 Decken in 35 Minuten aus dem Drucker gezogen werden (anschließend muss das Material nur noch im Ofen auf seine finalen Eigenschaften getrimmt werden).
Noch entscheidender ist aber der zweite Faktor: Carbon 3D steuert das Software Know-how bei, das Daten in Materialstrukturen übersetzt. Und Specialized besitzt durch das eigene Body Fitting System Retül Daten in Hülle und Fülle. Zehntausende detaillierte Sitzpositions- und „Satteldruck“-Daten liegen dort vor. Welcher Druck bei welcher Beckenform und Schuh-Einstellung und Sitzposition entsteht – das Body Geometry Team weiß es. Erst die Kombi aus Ergonomie-Daten und ihrer „Übersetzung“ in Material und Struktur macht die verblüffende Wirkung der Satteldecke aus.
Die Struktur, das sind im Fall des S-Works Power mit Mirror-Technik 14.000 Verstrebungen, die sich an 6.000 Knoten treffen. Dabei verändern sich sowohl die Längen als auch die Dicken der Verstrebungen. Es ergeben sich verschiedene Zellgrößen mit verschiedenen Eigenschaften. Weiter oben liegende Waben können zur besseren Druckableitung und Verteilung geformt werden, weiter unten liegende können federnd wirken. „Das ist mit Schaumstoff einfach nicht möglich. Man müsste tausende kleine Schaumstoffteilchen in der Satteldecke haben. Wir haben in den aktuellen S-Works Power Mimic-Sätteln bereits eine komplexe Schaumstoff-Anordnung für den Komfort und das macht einen Gutteil des hohen Preises aus“, erklärt Ben Edwards, Global Marketing-Manager Road bei Specialized.
Ein 3D-Drucker allein macht keinen guten Sattel
Ein 3D-Drucker allein macht keinen guten Sattel. Die richtigen Formen zu finden, die genau das leisten, was man will, ist die eigentliche Herausforderung. Der 3D-Druck erleichtert das. Prototypen können viel schneller gefertigt werden. Laut Ananda Day von Carbon dauert es nur einen Tag, um aus den Vorgaben für Be- und Entlastungszonen und für die Form eine neue Satteldecke zu errechnen und zu produzieren. So kann schnell getestet werden, ob eine Satteldecke die Erwartungen erfüllt. Und danach können die Eingaben der Tester wiederum schnell in neue Berechnungsmodelle einfließen.
Die Zukunft
Das Ende der Entwicklung ist deshalb eigentlich nicht der Sattel, der jetzt erstmals zum Probefahren bereit stand. Auch wenn er erfreulicherweise so wie gefahren zunächst 2020 in den Handel kommen soll. Am Ende steht eine Software, die genau weiß, welche Eingaben aus dem Retül-System in welcher optimalen Sattelform resultieren. Und „genau“, das meint in diesem Fall genau bis hin zu den einzelnen Waben – die Technik ist nicht die Grenze. Theoretisch könnte so die vollkommen individuelle Satteldecke direkt aus einem 3D-Drucker kommen, der beim Bikefitter steht. „Individueller Sattel to go“ sozusagen. „Wir sind ganz nah dran“, sagt Ananda Day. Aber dazwischen steht unter anderem, dass Satteldecke und Sattelschale noch miteinander verbunden werden müssen. Momentan erfolgt der Druck in Kalifornien, die „Verheiratung“ in Taiwan. Schon bald soll die Produktion regional sein.
Und der Sattel ist bei Weitem nicht die einzige Komponente am Fahrrad, die mit 3D-Druck verbessert werden kann. „Wir haben seit 3 Jahren einen Carbon 3D-Drucker im Unternehmen, es öffnete uns die Augen für die Möglichkeiten der Technik“, sagt Ben Edwards. Es läge auf der Hand, dass an den Punkten, an denen jetzt EVA-Schaum zum Einsatz kommt, der 3D-Druck zum Wohle des Fahrers einsetzbar ist. Konkret nennt er die Kontaktpunkte zum Rad, etwa Griffe. Aber es gibt ja noch andere Teile am Bike, die dämpfen, federn oder sich vorgegebenen Konturen anpassen müssen …
Fazit
Von einer Satteltestfahrt erwartet man keine Wunder. Insofern konnte die Überraschung über das neue Sitzgefühl auf dem S-Works Power Mirror Sattel kaum größer sein: Es verwundert sofort, wieviel besser sich ein Sattel anfühlen kann – vor allem in Sachen Dämpfung. Anderthalb Stunden gefahren, anderthalb Stunden fast perfekt gesessen. Wir sind gespannt auf das angekündigte Testmuster für viel längere Fahrten. Und noch gespannter, was sich aus der Technik noch alles herausholen lässt. Vor allem für FahrerInnen außerhalb der Norm könnte sie ein wahrer Segen sein. Der erwartbare Preis, freilich, dürfte sich anfangs entwickeln wie bei den Adidas Sneakern: "300 und steigend". Hält der erste Eindruck auch 10 Stunden Fahrt stand, wird das kein Hinderungsgrund sein.
Pro / Contra
Pro
- Neue Maßstäbe in Sachen Sitzkomfort
- Sehr gute Platzierung und Halt im Sattel
- Sitzklima vielversprechend
- Leicht
- Zukünftig individuell gestaltbar
Contra
- Erwartbarer Preis und anfängliche Verfügbarkeit
Was versprecht ihr euch vom 3D-Druck fürs Rennrad?