Wahrscheinlich hat jeder schon einmal von den Trails rund um Finale Ligure in Italien gehört. Ines Thoma, EWS- und – ab diesem Jahr – EDR-E-Racerin für Canyon, und Max Schumann, auch Racer und Marketingmann bei Santa Cruz, waren gemeinsam an der ligurischen Küste unterwegs und haben die Trails um Oltre Finale unsicher gemacht. Lest hier ihre Travelstory und holt euch Inspiration für euren nächsten Bike-Trip.
Oltre Finale mit dem E-MTB
Mein Fuß steht am Boden und ich mitten im steilen Steinfeld. Der Uphill-Flow hat kurz Pause und ich versuche, irgendwie Traktion zu finden und nicht nach hinten vom Rad zu kippen. Als ich meinen Schwerpunkt wieder im Griff habe und den Blick voll Zuversicht nach vorne richte, blicke ich direkt in das verschmitzt lächelnde Gesicht von Nicolo. Wie er leicht ergraut, braungebrannt und durchtrainiert etwas weiter oben im Trail steht und die Stelle natürlich spielerisch gemeistert hat. Nicolo ist Vollblut-Biker, Biobauer, Trailbuilder und bildender Künstler. Und vor allem ein extrem netter Kerl. Er plaudert munter auf Italienisch mit uns. Er spricht kein Englisch. Dafür aber fließend Mountainbikisch, und das ist eine Sprache, die wir gut verstehen, auch wenn der Dialekt E-Bikisch für uns noch relativ neu ist.
Neben der Kommunikation mit Helmen und Füßen haben uns 10 Jahre EWS zwei Enduro-Weisheiten gelehrt: Man steht beim Training nicht im Bild vom Fotografen-Chef Sven Martin und wenn der „Enduro-Papst“ Enrico Guala in seine Heimat Finale Ligure einlädt, um die Vision von einem perfekten E-MTB-Erlebnis zu zeigen, dann sagt man nicht nein. Die Locals wissen schließlich immer, wo es das cremigste Gelato und die knusprigste Pizza gibt. Und bei Enrico kann man sich außerdem sicher sein, dass er die besten Trails und die besten Guides kennt. Enrico ist als Event-Veranstalter, Bikeregionen-Berater und Bike-Importeur tief in der italienischen Szene verwurzelt. Er hat den Sport und die Trails maßgeblich mitgeprägt und unser heutiges Verständnis vom Enduro-Biken durch die Superenduro-Serie und die EWS mitbegründet. Und außerdem hat er einige der besten Bike-Regionen zu dem gemacht, was sie heute sind. Allen voran Finale Ligure. Und wenn jemand wie er, mit seinem Wissen, seinen Kontakten und vor allem seiner Leidenschaft für den Sport eine mehrtägige Reise zusammenstellt, dann wollen wir uns das unbedingt anschauen. Vor allem, wenn sie für ihn das ultimative, ligurische Bike-Erlebnis bedeutet.
Gesagt, getan. So reisen wir an Silvester einmal wieder nach Finale Ligure. Gefühlt schon zum hundertsten Mal. Das Städtchen am Mittelmeer steht häufig ganz oben auf unserem Reiseplan. Als Lieblings-Destination, wenn es um Winterflucht, Saisonvorbereitung, Traildichte und Gelato am Meer geht. Ja, wir lieben diese Region, aber können wir hier wirklich noch etwas Neues erleben? Nach unzähligen Trainingslagern, zwei Trophy of Nations und zehn Jahren Enduro Weltserie? Neu ist schon mal das Sportgerät, denn während wir in den vergangenen Jahren meist klassisch mit dem Biobike und in einer Kombination aus Muskelkraft und Shuttle-Bus unterwegs waren, ist es nun das E-MTB, das auf diesem Trip die Möglichkeiten erweitern und uns neue Perspektiven auf die Trails der Region bieten soll.
Die Touren starten direkt von der Bungalowterrasse, auf der wir zwischen Olivenbäumen den morgendlichen Espresso mit Blick auf das dunkelblaue Meer über Pietra Ligure geschlürft haben. Wir sind aufgrund der Nebensaison nur zu dritt auf dem Gelände, beziehungsweise zu sechst, denn direkt neben dem Frühstückstisch wohnen noch drei Schafe des Gastgebers Nico. Und es hätte uns nicht überraschen sollen, dass die Hometrails dieses Gastgebers, der Trailbauer und Bikefreak zugleich ist, die vielleicht anspruchsvollsten offiziellen Uphill-Trails sind, die wir jemals fahren durften. Genau hier am Monte Grosso wurde 2020 das erste EWS-E-Rennen ausgetragen und durch Enduro-Visionär Enrico einmal wieder eine neue Zeit begründet. Und wir brauchen ein paar Fehlversuche und Fahrfehler, um uns in dem Gelände und auf den Bikes zurechtzufinden. Eine kleine Herausforderung jagt die nächste. Es gibt flowige Kurven, steile Rampen, Absätze und Meerblick. Schnell wissen wir, wofür der Boost bzw. Turbo-Modus steht und dass das E-Mountainbiken für unsere Gastgeber absolut zu Recht als eigenständige Disziplin gesehen wird. Hier kommt man definitiv nicht ohne Unterstützung rauf. Und selbst mit vollem Bonus-Boost ist es ganz schön sportlich. Doch das gefällt uns. Wir lieben Herausforderungen und wir lieben technische Trails. Als wir eingefahren sind und Nico nicht mehr nur der E-Biker in der Ferne ist, beginnen wir zu verstehen, worum es geht, und was den Reiz ausmacht.
Im weiteren Trailverlauf wechseln wir bei unserer ersten Tour die Talseite und strampeln über Pfade und kleine Dörfchen von Pietra hinüber Richtung Finale, und kreuz und quer über den Hügel Caprazoppra. Hier sind wir in den vergangenen Jahren schon einige EWS-Stages gefahren. Der Spaghetti-Knoten, der unsere heutige Route hier oben beschreibt, zeigt uns aber einige neue Verbindungen und fahrtechnische Herausforderungen, die wir gerne annehmen und die klar und deutlich aufzeigen, warum das E-MTB hier das bessere Bike sein kann.
Tour zwei führt von Pietra Ligure aus in Richtung Monte Carmo. Auch das ist uns wohl vertrautes EWS-Terrain, das vor allem mit unendlich langen und technischen Abfahrten bekannt wurde. Mittlerweile hat die Trailcrew hier ein echtes Flow-Feuerwerk entzündet und viele frische Trails angelegt. Sie verbinden alte Wege mit neuen Elementen und zaubern ein Lächeln in Biker*innen-Gesichter. Der Stil ist klar vergleichbar mit den bekannten Abfahrten aus Finale. Aber sie sind nicht so leicht für die Busladungen von Shuttle-Rittern erreichbar. Das erhält die Qualität der Trails und macht das E-MTB zum idealen Vehikel. Wir haben Fahrspaß auf 1000 Höhenmetern Singletrail-Anstieg und uns die feine Pasta-Party in der Berghütte wohl verdient. Eine sehr ausgedehnte Mittagspause später, rollen wir wohlgenährt mit Dolce-Vita-Bauch wieder durch die Flow-Abfahrten Richtung Pietra und sind froh, dass heute kein Rennen mehr gewonnen werden muss.
„700 Arbeitsstunden, vier Trailbauer, 600 Höhenmeter Uphill-Flow“ – Nicos Augen beginnen zu strahlen, als er uns die Fakten seines neuesten Trail-Kunstwerks aufzählt, das am Tag darauf auf der Liste steht. Inspiriert durch den legendären „Roller Coaster“-Trail, den vielleicht ikonischsten Trail Liguriens, wenn nicht der gesamten Enduro-Welt, der eine ganze Generation von Finale-Freeride-Tourist*innen geprägt hat. 6,5 km Flow-Achterbahn durch ligurischen Bergwald. Genauso, nur andersherum, also bergauf-flowend statt bergab-kurvend, soll sich der neue Trail fahren. Wir sind sehr gespannt und starten wieder direkt am Agriturismo mit einer kleinen Ehrenrunde über Nicos Monte Grosso-Trails. Dann schlängelt sich die Route durchs Hinterland von Pietra und Finale Ligure, kreuzt durch Olivenhaine, folgt alten Karrenwegen und hin und wieder einer schmalen Pfadspur, die zwischen Hecken verschwindet und direkt auf feinste Singletrails führt. Immer wieder kreuzen wir uns bekannte Wege und Straßen, der Asphalt-Anteil bleibt aber deutlich unter der 5-%-Hürde.
Am Traileinstieg des neuen, sechs Kilometer langen Uphill-Wunders angekommen, bleibt Nico abrupt stehen und lässt noch lässig etwas Luft aus dem Hinterreifen. Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Wir tun es ihm auf alle Fälle gleich, sicher ist sicher. Und dann müssen wir auch schon wieder den Turbo zünden. Denn Nico schlängelt uns schon den Trail hinauf davon. Und wir strampeln, boosten und uphill-flowen hinterher. „Man spürt den Trail vor Kurven nicht mehr“, beschreibt den Flow-Zustand beim Biken nur unzureichend. Doch tatsächlich sind wir überrascht, wie uns der Trail vereinnahmt. Es geht, links, rechts, hin und her, um Bäume herum, durch große Kompressionen und kleine Anlieger, mehr rauf als runter. Kurzzeitig öffnet sich das Panorama bis zum Meer. Doch schnell fokussiert sich unser Blick wieder auf Felsstufen und kurze Rampen, auf enge Kurven und den schmalen Pfad, den Nico hier wie eines seiner vielen Kunstwerke mit viel Kreativität, aber vor allem einem guten Gespür für Formen und Kompositionen in den Hang gezaubert hat. Oben angekommen ist sein freundliches Lächeln noch einmal breiter geworden. Nico lebt und liebt das Biken. Und dass sein Herz mittlerweile für’s E-Bike schlägt, hängt wenig mit seinem fortgeschrittenen Alter zusammen. Vielmehr eröffnet es ihm eine neue Freiheit und völlig neue Möglichkeiten, die Pfade und Wege seiner Heimat zu erfahren.
„Heute entdecken wir etwas ganz Neues“, erläutert Enrico vom Beifahrersitz des Shuttle-Buses. Ja, wir nutzen das Shuttle mit E-Bikes. Denn die Tour, die Enrico und seine Crew uns heute servieren, beginnt eigentlich erst im nächsten Tal und ist außerdem die verdichtete Form einer 3-Tages-Tour, von der wir einige Highlights an nur einem Tag abradeln wollen. Da reicht selbst der größte Akku nicht. Und so starten wir im für uns ligurisch-klassischen Shuttle-Stil gemütlich im Bus auf dem Weg zum Colle del Melogno. Oben gibt’s erstmal einen obligatorischen Espresso. Dann geht’s auf die Bikes. Nach dem ersten Anstieg biegen wir aber rechts, landeinwärts, Richtung Bardinetto ab. Und nicht links zurück nach Finale und Pietra Richtung Meer. „Oltre Finale“ hieß ein legendärer Kletterführer über die Region und das Hinterland westlich von Finale. „Mehr als Finale“. Das beschreibt auch unsere heutige Tour sehr gut. Sie steht ganz im Zeichen des legendären Trailbauers Fulvio, der seit über 10 Jahren in der ganzen Region aktiv ist und laut Enrico vielleicht den größten Anteil am hiesigen Flow-Erfolg habe. „Fulvio, ein Wasser- und Bergsportler, wollte das Gefühl von Surfen und Snowboarden aufs Biken übertragen.“ Und das ist ihm sichtlich gelungen. Wieder und wieder schlängelt sich der Trail über Kuppen und Senken mit natürlichen Anliegern, Sprüngen und Wellen. „Grande“, rufen wir Enrico gegen den Fahrtwind entgegen und ein italienischer Jubelruf, schallt uns zurück durch den winterlich kargen Wald.
Denn so bunt und turbulent die Küstenregion rund um Finale ist, so verlassen, abenteuerlich und leer scheint das Hinterland zu sein. Leider hat die Unterkunft, in der Enrico seine Gäste unterbringen möchte, jetzt noch Nebensaison. Jedoch schwärmt er den ganzen Tag vom Vibe des Colletta di Castelbianco, einem Mittelalterdorf aus dem 13. Jahrhundert, das komplett verlassen war und nun als Großprojekt komplett renoviert wurde. Quasi eine Appartementanlage im Ritter-Stil. Und so nutzen wir die letzten Prozentchen Akkukapazität Tages, um die Dorfmauern zu erkunden und unsere E-MTB-Erfahrung mit Enrico bei einem Aperitivo Revue passieren zu lassen: Natürlich will Enrico wissen, wie uns sein Konzept gefällt und ob wir eine Reise bei ihm buchen würden.
Und ja, vor allem der fast 100-%-ige Trailanteil, die technischen Anstiege und die Kombination aus vielen kleinen unbekannten Pfaden hier und dort, wie sie nur ein Local kennen kann, hat uns alte Finale-Fans aufs Neue überrascht und überzeugt. Wir werden auch weiterhin die bekannten Klassiker-Trails in und um Finale fahren – nicht ohne Grund gehören sie zu den besten und beliebtesten Enduro-Trails der Welt. Doch Enrico und seine Crew haben mit sehr viel Liebe zum Detail ihre ganz persönlichen Lieblingsstrecken, Restaurants, Bars und Strandplätze zu einem einzigartigen Paket zusammengeschnürt, so wie sie ihre Heimat an Trail-, Dolce Vita- und E-MTB Liebhaber*innen präsentieren wollen. So fügt sich auch die Übernachtung in Nicos Agriturismo-Panorama-Bungalows ganz wunderbar ein.
Zurück im Shuttle-Van dämmert es bereits und wir sind fast überrascht, als bereits nach gut 30 Minuten Autofahrt die altbekannte Autobahnabfahrt von Pietra auftaucht. Wir fühlten uns den ganzen Tag etwas wie in einer anderen Welt und waren doch nur ein Steinfeld entfernt.
Hinweis: Max und Ines wurden zu dem Trip von Enrico und 4Guimp Travel eingeladen und auf den Touren begleitet.
Wer kennt die Gegend um Finale Ligure und war bereits mit seinem E-Bike dort unterwegs?
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