Heute gebräuchliche Hinterbausysteme

joerghag

Bekanntes Mitglied
Da im Forbidden DJI Thread kurz eine Diskussion über das Hinterbau System des Orbea aufkam, habe ich mal die aktuell gebräuchlichen Hinterbau Systeme mit ihrer Klassifizierung anhand von aktuellen Beispielen aufbereitet.
Eingezeichnet sind die Achse und der Drehpunkt bzw. virtuelle Drehpunkt in blau sowie die Bestimmung des Drehpunktes und die wirksamen Drehgelenke in rot. Auf Antirise und Antisquad gehe ich hier nicht ein, da dies zu komplex ist und eine CAD-Software zur Berechnung bräuchte. Auch die Erhebungskurve ist nicht eingezeichnet, da diese bei den Viergelenkern und da besonders bei den VPP Hinterbauten z.T. durch den wandernden Drehpunkt nicht einfach darzustellen ist.

Ich fange mal mit der einfachsten Hinterbaukinematik an, dem

Eingelenker
Kennzeichnend für alle Eingelenker ist, daß die Radachse eine reine Kreisbewegung um den Hauptdrehpunkt vollführt.
Die Kettenstrebe verbindet dabei direkt die Radachse mit dem Hauptlager. Die klassische Bauweise, in der der Dämpfer direkt von der Hinterbauschwinge angelenkt wird ist heute kaum noch verbreitet. Der Entwickler hat damit nur wenig Möglichkeiten, Auf die Progression Einfluß zu nehmen. Lediglich der Winkel des Dämpfers zur Schwinge kann hier für eine Beeinflussung herangezogen werden.

IMG_3031.jpeg

Gebräuchlicher sind heute abgestützte Eingelenker (früher auch Mehrgelenker genannt).
Bei dieser Bauform ist der Drehpunkt Achse/Hauptlager immer noch fix und beschreibt eine einfache Kreisbahn.
Durch die indirekte Anlenkung des Dämpfers kann über Umlenkwippen Einfuß auf den Progressionsverlauf über den Federweg genommen werden. I.d.R. bewegt sich der Dämpferweg heute zwischen 3/1 am Anfang und 2/1 am Ende des Federweges.
Für die Umlenkung benötigt es weitere Gelenke die aber immer an der Sattelstrebe oder bei Treck und Orbea in der Achse liegen und die Kreisbewegung der Kettenstrebe nicht beeinflussen. Bei Leichten CC Bikes wird hier auch oft ein Flexelement in der Sattelstrebe eingesetzt um Gewicht zu sparen.

IMG_3033.jpeg


IMG_3030.jpeg
IMG_3034.jpeg
IMG_3040.jpeg
IMG_3038.jpeg

Allen heutigen Eingelenkern ist gemein, daß der Hauptdrehpunkt auf Höhe des Kettenblattes liegt und die Raderhebungskurve im Anfangsbereich nach hinten/oben in Stoßrichtung führt. Bei größeren Bewegungen geht sie allerdings dann nach vorne und verkürzt den Radstand.
 
Zuletzt bearbeitet:

Anzeige

Re: Heute gebräuchliche Hinterbausysteme
Viergelenker und VPPs
Der klassische Viergelenker definiert sich über das Host-Link, welches von Host Leitner erfunden wurde.
Zuerst wurde es in seinen AMP-Bikes und den Hinterbauten vom Rocky Mountain verwendet und später von Spezialized übernommen. diese Bauform ermöglicht eine Beeinflussung der Raderhebungskurve weg von der engen Kreisform hin zu einer mehr senkrechten Erhebung. Der Drehpunkt ist dabei virtuell in der Verlängerung des Trapezes aus den vier Umlenkpunkten zu sehen und verschiebt sich im Laufe der Einfederung, ist also nicht fix. Dieser virtuelle Drehpunkt liegt beim klassischen Horst-Link i.d.R. relativ weit vorne, um den Kreisbogen größer zu machen und die Vorwärtsbewegung im späten Federweg zu unterbinden. Hier gibt es fast unzählige
Möglichkeiten der Beeinflussung. Ein Beispiel ist die Kinematik des Alutech, welches den statischen virtuellen Drehpunkt im Hauptlager hat und erst mit dem Einfedern nach vorne wandert. So geht die Erhebungskurve beim Einfedern erst auf dem engen Kreisbogen stärker nach hinten/oben um dann eher senkrechter noch oben zu verlaufen.

Die Bauformen können recht unterschiedlich sein und auch z.B. mit einem Flexlink an der Kettenstrebe (Cannondale) oder einem High Pivot Hauptdrehpunkt (Forbidden, Norco) kombiniert sein.

IMG_3025.jpeg
IMG_3029.jpeg
IMG_3035.jpeg
IMG_3037.jpeg
IMG_3032.jpeg
IMG_3039.jpeg



VPP (Virtual Pivot Point) heute auch Dual-Link
Das System der VPP-Hinterbauten treibt das Viergelenk-Prinzip auf die Spitze. Prinzipiell bleibt es bei dem Trapez mit den vier Umlenkpunkten, die Schwinge besteht dabei aber meist, wie beim klassischen Eingelenker aus einem Stück, wird aber über zwei kurze Umlenkhebel bewegt. Die Beeinflussung der Raderhebungskurve ist dabei sehr groß, sodaß der Virtuelle Drehpunkt nicht wie beim klassischen Viergelenker möglichst weit nach vorne rutschen muß um einen großen Kreisbogen zu simulieren, es können sogar S-förmige Erhebungkurven erreicht werden, wenn der Entwickler dies für sinnvoll hält. Es gibt unzählige Varianten, wie z.B. bei Pole, wo der untere Umlenkhebel fast die Länge einer
Kettenstrebe hat. Hier erkennt man auch ganz gut die Nähe zum Host-Link Hinterbau des klassischen Viergelenkers. Der statische virtuelle Drehpunkt liegt ähnlich wie beim Spezialized, andert sich aber stärker über den Federweg.

IMG_3028.jpeg
IMG_3027.jpeg
IMG_3023.jpeg
IMG_3024.jpeg
 
Zuletzt bearbeitet:
Exoten / Mischformen
Diese aufzuführen würde den Rahmen bei weitem sprengen. Als Beispiel sei Yeti genannt, die den Viergelenker um zwei weitere Gelenke oder ein Schiebelement erweitern. Eine heute praktisch nur noch in Billigrädern anzutreffende Bauform ist die Antriebsschwinge. Hierbei bilden der Hinterbau und das Tretlager eine Einheit. Nachteil ist die Relativbewegung zwischen Sattel und Tretlagerachse. GT- hatte das durch ein schwimmend gelagertes Tretlagergehäuse versucht auszugleichen und Heisenberg (Nicolai) in einer noch nicht ganz so alten Version über eine Kombination mit einem VPP, welches die Hinterbau/Motor Einheit relativ zum Sattel in Position hielt.

IMG_3042.jpeg




Diese drei Beiträge erheben nich den Anspruch auf Vollständigkeit, helfen aber vielleicht für ein Grundverständnis der verschiedenen Systeme.

Es darf gerne auch über Antisquad, Antirise, Bremsabstützung, etc. weiter diskutiert werden, da auch das sehr interessant ist und hier einen besseren Rahmen findet, als in den diversen Nebendiskussionen.

Gruß Jörg
 
Zuletzt bearbeitet:
denn der Hinterbau ist als starres Dreieck ohne zusätzliche Gelenke
Ich hatte schon überlegt dies weiter zu erklären, der Umlenkpunkt am Fokus sitzt ganz oben an der Sattelstrebe
und betätigt eine Umlenkung für den Dämpfer. Es ist somit kein klassische Eingelenker, aber sicher ein besonderer Mehrgelenker. Vielleicht hätte ich besser schreiben sollen „nicht an der Kettenstrebe“.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich finde man macht es sich ziemlich leicht damit, zu sagen dass alles was eine Kreisbahn am Hinterbau erzeugt, ein (abgestützter) Eingelenker ist.
Der Begriff „Mehrgelenker“ ist da m. M. zutreffender.
Bei Orbea oder Trek z. B. ist es das sog. Split Pivot Design, eine Entwicklung von Dave Weagle (wie auch Pivots DW-Link). Es erlaubt Antriebseinflüsse und Bremseinflüsse zu trennen.
Ich hätte es auch Viergelenker genannt, aber das ist wohl ein sog. „Fake-Viergelenker“…
Die alte GT-Version mit dem Drehpunkt im Tretlager ist auch hochinteressant…hat sich wohl nicht bewährt.

Hier noch etwas exotisch anmutendes (Evil), ähnlich wie beim Focus. Da finde ich persönlich auch den Begriff Eingelenker (abgestützt) sehr zutreffend, denn den Hinterbau hat nur eines und ist ein solides Dreieck. Der Rest der Gelenke verteilt sich ja auf die Umlenkung.

Zum klassichen Horst Link fällt mir eigentlich nur ein, dass auf diesem Patent ziemlich herum geritten wird, und viele Patentgebühren eingestrichen werden (heute von Specialized). Nur wegen dem einen bescheuerten Drehpunkt vor der Achse. Das wird natürlich mit flexenden Streben oder Split Pivot umgangen.
Das dürfte auch ein maßgeblicher Grund für die Entwicklung von SCs VPP gewesen sein. Wenn SC nicht auch Bosch-Motoren hätte verbauen wollen, wären die wohl beim VPP geblieben.

IMG_8182.jpeg
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich finde man macht es sich ziemlich leicht damit, zu sagen dass alles was eine Kreisbahn am Hinterbau erzeugt, ein (abgestützter) Eingelenker ist.
Früher hieß es auch einfach Mehrgelenker. Um aber Verwechselungen zwischen einem Viergelenk Mehrgelenker und einem Vier-Gelenker zu vermeiden wurden es dann allesamt abgestützte Eingelenker, solange nur ein Gelenk die Raderhebungskurve beeinflußt.

Das Split Pivot Design ist also nach heutiger Definition ein abgestützter Eingelenker mit Bremsmomentabstützung oder auch ein Mehrgelenker mit Bremsmomentabstützung, was ihn mit Treks System
von den klassischen abgestützten Eingelenkern abhebt. Funktioniert auch deutlich besser.
 
Ich finde man macht es sich ziemlich leicht damit, zu sagen dass alles was eine Kreisbahn am Hinterbau erzeugt, ein (abgestützter) Eingelenker ist.
Der Begriff „Mehrgelenker“ ist da m. M. zutreffender.
Bei Orbea oder Trek z. B. ist es das sog. Split Pivot Design, eine Entwicklung von Dave Weagle (wie auch Pivots DW-Link). Es erlaubt Antriebseinflüsse und Bremseinflüsse zu trennen.
Ich hätte es auch Viergelenker genannt, aber das ist wohl ein sog. „Fake-Viergelenker“…
Die alte GT-Version mit dem Drehpunkt im Tretlager ist auch hochinteressant…hat sich wohl nicht bewährt.

Hier noch etwas exotisch anmutendes (Evil), ähnlich wie beim Focus. Da finde ich persönlich auch den Begriff Eingelenker (abgestützt) sehr zutreffend, denn den Hinterbau hat nur eines und ist ein solides Dreieck. Der Rest der Gelenke verteilt sich ja auf die Umlenkung.

Zum klassichen Horst Link fällt mir eigentlich nur ein, dass auf diesem Patent ziemlich herum geritten wird, und viele Patentgebühren eingestrichen werden (heute von Specialized). Nur wegen dem einen bescheuerten Drehpunkt vor der Achse. Das wird natürlich mit flexenden Streben oder Split Pivot umgangen.
Das dürfte auch ein maßgeblicher Grund für die Entwicklung von SCs VPP gewesen sein. Wenn SC nicht auch Bosch-Motoren hätte verbauen wollen, wären die wohl beim VPP geblieben.

Anhang anzeigen 82323
gutes Beispiel für einen abgestützten Eingelenker, Last

1744463365943.png
 
Erstmal Danke für die Zusammenfassung, solche Hintergründe finde ich immer sehr interessant.
Wenngleich ich mich auch darüber schon mal informiert hatte, ist der Zusammenhang durch einen Erklärbär hier noch besser zu verstehen.

Nun mal noch meine ganz praktische Frage zu den vielen Varianten - kann man denn sagen, welche nach gängiger Auffassung die "Beste" im Sinne von Ansprechverhalten/Reaktivität, Ausgleich von Bodenunebenheiten usw. ist? Also unabhängig von den verwendeten Federelementen betrachtet.
Aus physikalischer Sicht müsste das doch grundsätzlich in Richtung VPP bzw. eine Abwandlung davon gehen, also alles was durch ein initiales Einfedern nach oben-hinten den Stoß des Hinterrades an Hindernissen abmildert, durch eine schwimmende/beidseitige Anlenkung des Dämpfers die Reaktionszeit/-strecke minimiert, sowie dabei möglichst parallel zum Untergrund bleibt?!
Ausschlaggebend für die Qualität des Effekts dürfte dabei das Gewicht der gefederten Masse sein, also Rahmen und Fahrer.
Bei genügend Gewicht (Masseträgheit) hat das Fahrwerk genug Gegenhalt zum Arbeiten. Das ist ja bei Motorrad und Auto der Hauptgrund für die allgemein gute Federungsfunktion, da die ungefederte Masse des Fahrwerks anteilig nur einen kleinen Bruchteil des Gesamtgewichts beträgt, im Gegensatz zu Fahrrädern, dort ist dessen Anteil viel größer und hauptsächlich die Masse des Fahrers verbessert da das Verhältnis.
 
kann man denn sagen, welche nach gängiger Auffassung die "Beste" im Sinne von Ansprechverhalten/Reaktivität, Ausgleich von Bodenunebenheiten usw. ist?
Wohl eher nicht. Alle Systeme haben bestimmte Vorteile und Nachteile. Und das Ganze hängt auch von den persönlichen Vorlieben ab.
Ich denke man kann aber festhalten dass ein nicht abgestützter Eingelenker heute kaum noch zu finden ist. Die Progression ist kaum zu beeinflussen und die radiale Belastung Gift für jeden Dämpfer.
 
Theoretisch ist ein VPP Hinterbau am besten, da er am weitesten vom Charakter einstellbar ist.
Praktisch hat aber jeder so seine Vorlieben und die müssen nicht mit der Idee des Entwicklers übereinstimmen.

Wenn man so ins Netz horcht, hört man bei Santa Cruz und Pivot oft, „fühlt sich nach mehr Federweg an“.
Ich kann aus Erfahrung sagen, daß beide für mich sehr gut funktionieren, genau wie das Pole Voima.
Aber auch die Viergelenker im Alutech und im YT funktionieren sehr gut.

Modernere Ein/Mehrgelenker bin ich schon lange nicht mehr gefahren. Die Orbeas meiner Freunde sind mir zwei Nummern zu groß und mein altes Cannondale SuperV oder Votec sind doch etwas aus der Zeit.


P.S.: Doch einen neuen klassischen Eingelenker kenne ich noch. Das Riese und Müller Delite. Der ist aber auch sehr klassisch und nicht besonders gut. Als Reiserad aber sehr komfortabel.
 
VPP funktioniert schon gut, keine Frage. Hatte ich an neinem SC Nomad. Man muss aber sehr darauf achten, das der Sag passend eingestellt ist. Sonst pedaliert es sich m. M. nach nicht so gut.
Der Split Pivot an meinen Orbeas funzt aber auch super.
Zum 4-Gelenker meines alten GT LTS Team sage ich nichts, das ist ebenfalls etwas aus der Zeit…
 
Zurück